Murat Cem alias VP01: Wie der V-Mann Anis Amri traf (2024)

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Murat Cem alias VP01: Wie der V-Mann Anis Amri traf (1)

Zum ersten Mal traf Murat Cem den Mann, der sein Verhängnis werden sollte, am Hauptbahnhof von Duisburg. Ein anderer Salafist hatte den Tunesier mitgebracht. Der spätere Terrorist Anis Amri sollte sie nach Dortmund in eine Moschee begleiten.

Es war der 17. November 2015, der Abend, an dem in Hannover das Fußball-Länderspiel Deutschland gegen die Niederlande abgesagt wurde. Es ist eine besonders grausame Ironie der Geschichte, dass an dem Abend eines schlagzeilenträchtigen Terror-Fehlalarms der gefährlichste Islamist auf deutschem Boden und der V-Mann, der ihn hätte stoppen können, zum ersten Mal in Kontakt kamen. Nur verstanden sie sich zu Anfang nicht.

"Ich kann mich mit Anis nur schlecht verständigen, da er nur Hocharabisch spricht", berichtete Cem seinen Kontaktleuten von der Polizei. An diesem späten, dunklen Novemberabend fuhr der Spitzel seine Salafisten-Clique nach den gemeinsamen Gebeten nach Hause. Unvermittelt offenbarte einer der Mitfahrer etwas. Amri "möchte hier was machen", sagte er. Cem sah Amri an. Der Tunesier nickte bestätigend.

"Er war ein aggressiver Mensch"

Wenn der V-Mann das anschließende Kauderwelsch aus Arabisch, Türkisch und Deutsch richtig verstand, sah der ursprüngliche Plan des Tunesiers vor, eine Deutsche zu heiraten, um an legale Papiere zu gelangen. Mit denen wollte er dann zum IS ziehen. Anscheinend aber wollten die Frauen nicht so wie Amri. Daher würde es mit der Ausreise auf diese Weise wohl nichts werden. Der Tunesier plante deswegen jetzt, in Deutschland aktiv zu werden. So berichtete es Cem umgehend der Polizei. Doch die war zunächst damit befasst, die wahre Identität des Asylbewerbers herauszufinden.

Der V-Mann lernte Amri als aufbrausend kennen. "Er war ein aggressiver Mensch, immer wütend, schnell verletzt", sagte er später. Als die beiden sich im Herbst 2015 begegneten, erzählte Amri ihm, dass er aus Tunesien stamme und zum IS wolle. Murat Cem fragte ihn, warum er dann nach Deutschland gekommen sei. Amri rastete aus. Er verstand die Frage als Kritik, vielleicht sogar als Kränkung. So als zweifele jemand an seinen redlichen Absichten als Terrorist. Er beschimpfte Cem, er schrie. Doch der konnte ihn beruhigen. Er sollte ihn immer wieder beruhigen können. Bis er sich nicht mehr um Amri kümmern durfte.

Murat Cem, 15 Jahre älter als Amri, spielte in der Beziehung der beiden instinktiv den großen Bruder, den abgeklärten Ratgeber. Er tätschelte Amri den Nacken und lächelte ihn an, wenn der mal wieder ausflippte. Und Amri, aufgewachsen mit acht älteren Geschwistern, war empfänglich für die Zuwendung des lebenserfahrenen Murat mit der gemütlichen Statur.

Eine Woche nach dem ersten Treffen saß Murat Cem erneut mit Amri und einem anderen Salafisten im Auto. Sie versuchten sich zu unterhalten und nutzten dazu ein Online-Übersetzungsprogramm. Cem wollte Amri aus der Reserve locken. Er wolle unbedingt "in Deutschland was machen", log der V-Mann. Damit überschritt er die ihm vorgegebene Grenze. Um das Vertrauen potenzieller Terroristen zu gewinnen, hätte er laut Polizei sagen sollen: Er sei grundsätzlich bereit, im Sinne Allahs etwas in Deutschland zu machen. Doch das war wenig praxistauglich. Murat Cem wählte seine Variante. Amri biss an.

Der Tunesier erzählte jetzt von einer Kalaschnikow, die er für "1500 Euro in Napoli" besorgen könnte, ein "russisches Fabrikat". Der Anschlag in Paris lag noch keine zwei Wochen zurück. Wenn Murat das Geld habe, könnten sie sofort nach Italien fahren, schlug Amri vor. "Lass mich überlegen, aber warum nicht?", sagte der Spion. Er wollte Zeit gewinnen - und sich mit der Polizei besprechen. Ihnen berichtete er: "Anis macht auf mich einen sehr radikalen Eindruck, er will unbedingt für seinen Glauben kämpfen."

Deutschlands wichtigster V-Mann erzählt seine Geschichte

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Eine Woche später waren Murat Cem und Anis Amri auf dem Weg nach Bochum. Auf der Fahrt suhlten sie sich in ihrem Hass. Amri, der Heißsp*rn, der Neue, wollte anerkannt werden. Er hielt Murat Cem einen blauen Pass unter die Nase. Mit dem Dokument werde er nach Frankreich fahren, um Kalaschnikows zu besorgen, sagte Amri. Er wolle in Deutschland Anschläge im Namen Allahs verüben. Sie könnten auch gemeinsam nach Paris fahren, bot Amri an. Er kenne dort Brüder, von denen sie die Waffen bekämen.

Der V-Mann war elektrisiert. Da war sie wieder, die Gelegenheit, einen Islamisten mit einem seiner Standardmanöver hochgehen zu lassen: dem Scheinkauf. Er möge doch Geduld haben, sagte Murat Cem zu Amri. Er werde sich die Sache überlegen. Er brauche etwas Zeit dafür. Er hätte sofort zugesagt. Doch er dachte, die Polizei müsse so einen Deal vorbereiten.

Dabei wollte die Polizei gar keinen Deal machen.

Monate später zogen die Beamten Murat Cem von Anis Amri ab, die Ermittler verloren den Islamisten schließlich vollständig aus den Augen. Im Dezember 2016 verübte der Tunesier seinen Anschlag am Breitscheidplatz, zwölf Menschen starben, Dutzende wurden verletzt.

Der SPIEGEL hat vor einigen Wochen die Geschichte des V-Manns Murat Cem enthüllt. Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus dem nun erschienenen SPIEGEL-Buch "Undercover. Ein V-Mann packt aus."

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