Bundestag berät über neues V-Mann-Gesetz (2024)

Der Rechtsausschuss des Bundestags debattiert über eine Reform des polizeilichen V-Mann-Systems. Hintergrund sind Enthüllungen des SPIEGEL über den legendären Informanten Murat Cem alias VP01.

VonJörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid

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Bundestag berät über neues V-Mann-Gesetz (1)

Der Fall des V-Manns Murat Cem alias VP01 zieht immer größere politische Kreise. Vor dem Rechtsausschuss des Bundestages debattierten an diesem Mittwochnachmittag Sachverständige aller Fraktionen über einen Antrag zur Reform des polizeilichen V-Mann-Wesens. Ein Gesetz, das den Umgang mit Vertrauenspersonen der Polizei regelt, sei dringend erforderlich, sagte der Kölner Strafverteidiger Nikolaos Gazeas. »Ein Handeln innerhalb rechtlicher Grauzonen ist inakzeptabel und in diesem Fall sogar verfassungswidrig«, so Gazeas.

Er jagte Dealer, Mörder, Salafisten

Der Vortrag des Experten vor den politischen Akteuren wurde zu einer Abrechnung mit dem bislang kaum kontrollierten Einsatz von Spitzeln im polizeilichen Alltag. Insbesondere die Causa Murat Cem zeige eindrücklich, wozu fehlende gesetzliche Vorgaben führen könnten, sagte Gazeas. Ohne die Recherchen des SPIEGEL wären teils gravierende Vorfälle in der Karriere des Polizeiinformanten wohl nie ans Licht gekommen, so der Strafrechtler.

Hintergrund der Initiative der FDP, das V-Mann-Wesen der Strafverfolger endlich gesetzlich zu regeln, sind

Enthüllungen des SPIEGEL über den früheren Informanten der nordrhein-westfälischen Polizei

. Der als VP01 bekannt gewordene Informant mit dem Decknamen Murat Cem war 2015 in eine Islamistenzelle eingeschleust worden. Dort traf der Türke auf den späteren Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri. Cem warnte die Polizei mehrfach vergeblich vor dem Tunesier, der später mit einem Anschlag 2016 elf Menschen tötete und Dutzende teils schwer verletzte. Eine Titelgeschichte zeichnete im vergangenen Jahr seine fast 20-jährige Karriere als V-Mann nach. Cems Werdegang offenbart massive Mängel in der Polizei. Er jagte

Drogendealer, Waffenhändler, Mörder und Salafisten

. Beamte beschreiben ihn als den besten V-Mann, den sie je hatten. Daher waren sie offenbar bereit, ihn um jeden Preis zu schützen.

Polizeigeld für Kokain

In der Zeit als V-Mann beging Cem immer wieder Straftaten. So kaufte er während eines wochenlangen Einsatzes im Kölner Rotlichtmilieu mit Spesengeld der Polizei regelmäßig Kokain. Cems Vorstrafenregister weist bis heute zwölf Eintragungen auf, darunter Drogendelikte, Diebstahl und Körperverletzung. Nach SPIEGEL-Informationen sagten Polizisten als Zeugen in einem Gerichtsverfahren falsch darüber aus, wie oft Cem tatsächlich als V-Mann eingesetzt worden war. Wohl um die Glaubwürdigkeit seiner Angaben nicht zu gefährden, verschwiegen die Beamten vor Gericht auch, dass ihr Informant selbst bereits erheblich durch Straftaten aufgefallen war. Für seine Tätigkeit als V-Mann wurde Cem von der Polizei zudem in bar bezahlt. Nebenher bezog er noch Sozialleistungen – über die Zahlungen der Polizei wurde das Jobcenter jedoch nicht informiert.

Nach seiner Abschaltung ließen die Behörden ihren Spitzenstar fallen und versteckten ihn im Zeugenschutz an einem geheimen Ort. Cem sei durch die jahrzehntelange hohe Einsatzbelastung und seine Gefährdung faktisch allein nicht lebensfähig, sagte Strafrechtler Gazeas vor dem Ausschuss. Er vertrat Murat Cem auch als Rechtsanwalt. »Ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben ohne Polizeischutz ist ihm ebenso wie seiner Familie nicht möglich«, so Gazeas.

Es gibt bislang kein klares Gesetz

Möglich sind solche Auswüchse nach Expertenmeinung durch absichtlich lax gehaltene Vorschriften. Während es für Informanten des Verfassungsschutzes seit der Aufarbeitung der rassistischen Morde des

»Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU)

gesetzliche Regeln gibt, arbeiten die Spitzel der Polizei ohne eine eigene gesetzliche Grundlage. Bislang ist der Einsatz polizeilicher V-Leute nur in Verwaltungsvorschriften und allgemeinen Klauseln der Strafprozessordnung normiert. Ein klares Gesetz, das zum Beispiel regelt, wie oft ein V-Mann eingesetzt werden darf oder wer überhaupt als Informant infrage kommt, gibt es nicht. Juristen hatten in der Vergangenheit immer wieder eingefordert, das V-Mann-System von Polizei und Justiz müsse reformiert werden.

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Sogar eine eigens eingesetzte Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes empfahl in einem Gutachten Ende 2019 die Schaffung eines Gesetzes, das die Tätigkeit von V-Leuten in Strafverfahren regelt. Es war ein Arbeitsauftrag an die Gesetzgeber. Nachgekommen ist er diesem immer noch nicht. Der neue Antrag soll das nun ändern.

»Es geht nicht darum, dass wir der Polizei ein wichtiges Ermittlungsinstrument wegnehmen wollen«, sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser. »In engen Grenzen sind polizeiliche Spitzel zur Aufklärung der
konspirativ agierenden, harten Kerne von schwerkriminellen Milieus sogar unerlässlich. Der Fall des V-Manns Murat Cem und weitere Beispiele zeigen aber sehr deutlich, dass wir endlich ein Gesetz brauchen, das den Einsatz klar regelt«, so Strasser.

Abstimmung noch vor der Sommerpause

Auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (

CDU

) zeigte sich

offen für Verbesserungen

. Er wolle sich einer »möglichen Optimierung des Systems« nicht verschließen, sagte Reul. »Die Polizei muss allerdings vollständig handlungsfähig bleiben. Das ist wichtig«, so Reul.

Widerstand gibt es dagegen von Strafverfolgern, die die Beschneidung einer effizienten Ermittlungsmethode fürchten. In der Ausschusssitzung betonte der als Sachverständige geladene Leiter der Staatsanwaltschaft Karlsruhe, dass die Rechtmäßigkeit der bisherigen Praxis immer wieder höchstrichterlich anerkannt worden sei. Ein Spezialgesetz sei daher nicht erforderlich.

Die FDP will den Gesetzesantrag noch vor der Sommerpause dem Bundestag final zur Abstimmung vorlegen.

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