Kevin Clarke: Die Fund­grube der Genre­ge­schichte (2024)

CRESCENDO: Wo liegt heut­zu­tage das Problem der Operette?

Kevin Clarke: Es gibt dieses Klischee, dass Operette banal sei, dass es da nichts zu entde­cken gibt, weder inhalt­lich noch musi­ka­lisch noch im Hinblick auf den histo­ri­schen Kontext. Eines der Ziele des Operetta Rese­arch Center ist es darauf hinzu­weisen, dass es diesen inter­es­santen Kontext doch gibt.

Was macht das Operetta Rese­arch Center genau?

Wir versu­chen als weit­ge­hend privat finan­zierte Insti­tu­tion, Infor­ma­tionen rund um das Thema Operette zusam­men­zu­tragen. Dabei ist das Ziel zum einen, möglichst auf die Verbin­dung von Operette und Musical hinzu­weisen, und zum anderen, das Genre auch als inter­na­tional zu begreifen, also sich zum Beispiel nicht nur auf die Wiener Operette oder Offen­bach zu beschränken, sondern zu zeigen, dass es zwischen all diesen Arten der Operette Verbindungs­linien gibt.

Was ist denn über­haupt eine Operette? Wie kann man dieses Genre histo­risch und gattungs­ge­schicht­lich fassen?

Die Operette ist vor allem als histo­ri­sche Form des kommer­zi­ellen Unter­hal­tungs­thea­ters zu defi­nieren. Das, was wir heute als Operette verstehen, geht im Wesent­li­chen auf das zurück, was circa 1850in Paris durch Offen­bach und Hervé entstanden ist. Das war eine sehr spezi­elle Spielart des Musik­thea­ters, die auch an anderen Bühnen und nicht nur an der Opéra comique lief, sondern in soge­nannten Off-Thea­tern, wie man heute sagen würde. Bei Emile Zola werden beispiels­weise Theater beschrieben, die auch als „Bordell“ bezeichnet wurden. Da verkehrte ein sehr elitäres männ­li­ches Publikum um sich mit Halb­welt-Damen zu treffen. Man setzte sich aber auch ab von den Etablis­se­ments, die das Bürgertum frequen­tierte. Diese beson­dere gesell­schaft­liche Situa­tion hat es erst möglich gemacht, dass in der Operette Geschichten erzählt werden konnten, die von der Norm abwei­chen. Es gab sehr viel mehr sexu­elle Frei­heiten. Dadurch waren gerade die frühen Stücke von Offen­bach und Hervé oft ein Skandal, aber auch unglaub­lich populär, vornehm­lich bei einem Männer­pu­blikum. Das war die Urform der Operette.

Wie kam es dann zu diesem Bedeu­tungs­schwund, unter dem die Operette bis heute leidet?

In den 1880er-Jahren kam es zu einem Umschwung. Das Genre wurde populär, immer mehr Menschen wollten Operetten sehen. Und in dem Moment, in dem der Main­stream dort ankam und Wiener-Walzer-Selig­keit haben wollte, verschoben sich die Koor­di­naten, weil dieser Main­stream natür­lich ganz andere Moral­vor­stel­lungen hatte. Es entwi­ckelte sich eine andere Form der Operette, die sehr viel mora­li­scher war und in die „gute alte Zeit“ zurück­blickte. Ein eroti­scher Kitzel sollte bleiben, aber zum Schluss sollten die Helden dann doch im Hafen der Ehe landen. Die Operette vom Typus Offen­bachs und Hervés wanderte ab den 1890er-Jahren in Form von Vaude­ville- oder Cabaret-Operetten auf klei­nere Bühnen ab. Im weiteren Verlauf bewegt sich die Operet­ten­ge­schichte zwischen diesen beiden Extrem­polen, aller­dings gibt es viele verschie­dene Spiel­arten, zum Beispiel die Revue-Operette, die Walzer-Operette, die Jazz-Operette. In Deutsch­land ging die Entwick­lung bis 1933, weil die Natio­nal­so­zia­listen die elitäre, eigent­lich auch sehr inno­va­tive Form der Operette dann komplett gekappt und die nost­al­gi­sche Operette prote­giert haben. Und dieses Bild lebt seitdem leider fast ausschließ­lich fort.

Kevin Clarke: Die Fund­grube der Genre­ge­schichte (1)

Wie beur­teilen Sie vor diesem Hinter­grund denn die Diskus­sion um die Insze­nie­rung der Operette Die große Sünderin von Eduard Künnecke in Leipzig, die derzeit in der Presse sehr kontro­vers disku­tiert wird? Die Operette ist einer­seits als popu­läres Unter­hal­tungs­stück in der Nazi-Zeit entstanden, ande­rer­seits war das zeit­wei­lige NSDAP-Mitglied Künnecke bis zu seinem Partei­aus­schluss wegen „nicht­ari­scher Versip­pung“ auch unter den Nazis noch mit Sonder­ge­neh­mi­gung tätig.

Ich finde sehr span­nend, dass das Theater das macht. Es ist nicht nur legitim, sondern auch gut, dass diese Werke zur Diskus­sion gestellt werden. In diesem Fall vermisse ich aber ein biss­chen die Diskus­sion, was das eigent­lich für ein Werk ist, wieso etwa dieses Werk 1935 an der Staats­oper Unter den Linden aufge­führt worden ist. Histo­risch ist das wahn­sinnig span­nend. Wenn man das aber als 08/15-Operette aufführt, dann fällt man wieder auf diese fatale Nazi-Falle rein, dass Operette eben keinen intel­lek­tu­ellen Anspruch habe und dass das nur eine Berie­se­lungs­musik sei. Das ist sehr schade. Das spricht mich ästhe­tisch nicht an und verharm­lost ein Stück, bei dem es sehr viel mehr raus­zu­holen gäbe. Es hätte Möglich­keiten gegeben, ein Bewusst­sein für den Kontext zu schaffen.

Spielt die Operette bis auf die Auffüh­rung von histo­ri­schen Werken heut­zu­tage noch eine Rolle oder wird sie durch das Musical als kommer­zi­elles Unter­hal­tungs­theater abge­löst?

Das ist schon lange passiert. In Deutsch­land haben wir dabei eine beson­dere Situa­tion, da die Geschichte der Operette ab 1933 poli­tisch vorge­geben war. In Amerika und England gibt es eine andere Situa­tion. Da beginnt schon in den 1920er-Jahren eine Auftei­lung. Bis in die 1930er-Jahre bleibt die Operette am Broadway das kommer­ziell erfolg­reichste Genre. Dann wird dort die Operette zuneh­mend zu einem nost­al­gi­schen Genre und gleich­zeitig entwi­ckelt sich das Musical als zeit­ge­nös­si­sche Form mit zeit­ge­nös­si­schen Geschichten. Nach dem Zweiten Welt­krieg trennt sich das radikal: Ab dann hat die Operette den Ruf weg, altmo­disch zu sein und von einem älteren Publikum konsu­miert zu werden, während sich das Musical als das hippe, inno­va­tive Genre weiter­ent­wi­ckelt. Ab den 1950er-Jahren ist die Operette als Genre tot. Die krea­tiven neuen Kräfte im Unter­hal­tungs­theater sind alle im Musical-Bereich. In den letzten 10 bis 15 Jahren gab es verein­zelt aber durchaus inter­es­sante Versuche, mit dem Genre zu spielen, etwa 2006in Los Angeles The Beastly Bombing.

Welche vernach­läs­sigten Werke lohnte es dennoch zu entde­cken?

Gerade um Offen­bach und Hervé gibt es noch vieles! Hervé war seiner­zeit genauso erfolg­reich wie Offen­bach und ist heute fast völlig vergessen. Zum anderen gibt es in der Zeit vor dem Ersten Welt­krieg die Berliner Operette um Jean Gilbert und Victor Hollaender. Da gibt es auch viele Schätze zu heben.

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Weitere Informationen zum Operetta Research Center auf: operetta-research-center.org

Fotos: Ida Zenna

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